20. Juli, Stauffenberg und heute

Am heutigen 20. Juli, an dem der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus gedacht wird, kommen Stimmen auf, die die Motivation Stauffenbergs und seiner Mitstreiter in Frage stellen und teilweise sogar desavouieren wollen. Hintergrund ist, dass die Attentäter des 20. Juli erst relativ spät Widerstand gegen die Nazi-Diktatur geleistet haben; „sie hätten doch schon 1933 handeln können und müssen!“

Die Frage aber, ob jemand schon 1933 hätte anders handeln können als er gehandelt hat, ist einerseits müßig, verkennt aber auch andererseits den nach 1918 propagierten Rechtspositivismus, der davon ausging, dass unter Beachtung der geltenden Rechtsordnung ordnungsgemäß gesetztes Recht auch immer rechtmäßig sei (siehe hierzu auch die Causa Filbinger: „was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“). Der Rechtspositivismus wurde insbesondere von Republikanern und Sozialisten propagiert, um die monarchistischen Strukturen der ehemalig kaiserlichen Verwaltung aufzubrechen und in das republikanische System zu überführen. Dass ordnungsgemäß gesetztes Recht dennoch naturrechtlich rechtswidrig sein kann, hat sich erst später entwickelt und heute (fast) allgemein durchgesetzt, nicht zuletzt durch die berühmte „Radbruchsche Formel“ von Gustav Radbruch. 

„Wo also […] Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, können die so geschaffenen Anordnungen nur Machtsprüche sein, niemals Rechtssätze […]; so ist das Gesetz, das gewissen Menschen die Menschenrechte verweigert, kein Rechtssatz. Hier ist also eine scharfe Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht gegeben, während wie oben gezeigt wurde, die Grenze zwischen gesetzlichem Unrecht und geltendem Recht nur eine Maßgrenze ist […].“

– Gustav RadbruchVorschule der Rechtsphilosophie. 2. Auflage, Göttingen 1959, S. 34.

 

Selbst heutzutage ist aber dieser Konflikt noch nicht aufgelöst und entfacht Diskussionen immer dort besonders stark, wo es um Gewissensentscheidungen geht – oder wo diktatorische Regime ihre Ziele auch mit Hilfe des Rechts durchsetzen wollen (z.B. DDR mit dem Republikfluchtgesetz und dem darauf basierenden Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze). 

(Konstruiertes) Beispiel: wenn Deutschland ein Gesetz erlassen würde, dass Flüchtlinge im Mittelmeer nicht gerettet werden dürfen, wäre das zunächst einmal – wenn das Gesetz ordnungsgemäß zustande gekommen ist – positives Recht mit Bindungswirkung, kein Deutscher dürfte dann mehr in solchen Situationen Hilfe leisten. Dass so etwas heute absolut inakzeptabel wäre, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung. 1920 aber und in den folgenden Jahren wäre mit dem Gesetzesbeschluss die Diskussion zu Ende gewesen und niemand hätte ein solches Gesetz ernsthaft in Frage gestellt – heute wird aber positives Recht an übergeordnetem Recht (Menschenrechte, Grundgesetz-Artikel 1) gemessen und kann daher rechtsunwirksam sein. Ein solches (fiktives) Gesetz wäre daher aus heutigen Sicht unwirksam und sogar rechtswidrig. 

Dieser Konflikt wäre aber einem staatstreuen Bürger der Weimarer Republik und der ersten Jahre des Nationalsozialismus überhaupt nicht bewusst gewesen – erst mit den Jahren kam es zu den Denkvorgängen und Denkkonflikten, die Menschen wie Stauffenberg dann zu einer Abkehr von ihrer bisherigen Einstellung führten. Stauffenberg vorzuwerfen, dass er diese Konflikte – die gegen jegliche Auffassungen der damaligen Zeit standen – schon 1933 hätte erkennen und danach handeln müssen, ist einfach hypertroph und verkennt, dass jeder Mensch immer nur nach den Erkenntnissen handeln kann, die ihm zum Zeitpunkt seiner Handlung zur Verfügung stehen – umso ehrenvoller, wenn man später bereit ist, von seinen bisherigen Einstellungen abzuweichen. Nicht nur deswegen gehört Stauffenberg für mich zu den Großen der deutschen Geschichte und des Widerstandes gegenüber den Nazis!

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